Die altbekannte Geschichte rund um den Jungen aus Pinienholz und dem tragischen Gepetto wird nach den schrecklichen Taten des Krieges besiedelt. Pinocchio lernt die Welt, das Miteinander und die Gesellschaft kennen, doch zu welchem Preis? Die kleine italienische Stadt wird Zeuge von einer magischen Reise, die es sich zur Aufgabe macht mit ihrer dunklen Darstellung und allerlei Überraschungen eine völlig neue Interpretation und Sichtweise auf die Geschichte zu erzielen.
Unzählige Interpretationen vermarkteten zunehmend das Image der Geschichte, um mit dem Entstellen der wesenhaften Kunde vom Wesen der Handlung Besitz zu ergreifen. Schlicht zu behaupten, es mangele den Regisseuren und ihren Riegen an Kreativität, wird demgegenüber von Guillermo del Toro untergraben. Mit lieblicher Stop-Motion Technik gelingt es dem oscarprämierten Regisseur, die charakteristische Magie abermalig einzufangen. Es sind jene Diskrepanzen inmitten von Traum und Gesang, sowie dem realitätsnahen Ansatz dieser Interpretation. So umschlingt die Handlung die bewährte Richtung und Auffassung, scheut fraglos nicht vor einer eindringlichen Dunkelheit, umhautet von bissigen Anspielungen und immersivem Schrecken. Trotz dessen Annäherung an implizite Tiefen, stand unlängst die erste Interpretation von Walt Disney auf dem Treidelpfad in ein bedachtes Gewässer der Norm des Geleits.
Das märchenhafte Äquivalent zu Mafiafilmen, wie „GoodFellas“ (Martin Scorsese), „Der Pate“ (Francis Ford Cappola), oder „Es war einmal in Amerika“ (Sergio Leone), Pinocchio. Evident untermauert jene neue Interpretation diese Unvereinbarkeit: Kinderfilm und gewaltverherrlichender Inhalt auf antipathischem Manier, doch wo liegt die Gleichrangigkeit? Kaltblütige Morde, aber vor allem trügerische Ansichten und Verschwörungen sind des Öfteren auf Lügen statuiert. So postulieren Filme des Mafia/Verbrecher-Genres einen Werdegang, welcher sich selbsterklärend auf die Kindheit bezieht. Das Wirken, oder die Abwesenheit elterlicher Fürsorge.
Auch in del Toro´s Interpretation hinterfragt Pinocchio die weltlichen Ansichten und Gegebenheiten, wenngleich der Aspekt der Lügen wenig beabsichtigt schein, stellen sie das Gerüst des Films dar. Seien es „harmlose“ Ablenkungen, um vom Thema abzulenken, oder schwieriges zu umgehen, oder aber wahrhaftige Lügen, wie die ungerechte Bezahlung im Zirkus. Sie alle tragen Konsequenzen mit sich und sind allgegenwärtig. Dennoch bleiben sie nicht verdeckt und verfolgen den Verbreiter auf Schritt und Tritt, bis sie ihn erreichen und dessen Arbeit, sie zu unterbinden, als Verhängnis deklarieren. Das Remplacieren von subjektiv Relevantem als Indiz für falsche Erziehung. Im materiellen Sinne sichtlich keine Problematik, doch die oft angeschnittene Vermenschlichung des Protagonisten, Pinocchio, widerruft ebenso den Sinn einiger materieller Angewohnheiten. So kann im Baum stets eine Lebensform hausen, die unter menschlichen Einflüssen leiden wird.
Das Lügen, oder die Ignoranz (zwischenmenschlicher Bedürfnisse) spiegelt ebenso die beiden Antagonisten der Handlung wider. Zum einen der Zirkusbesitzer, in seinem kapitalistischem Denken vermutlich gestützt, und zum anderen der Soldat und Vater, welche seine Werte gleichermaßen vermittelt bekam. Sie nehmen statt Moral ihre eigens eingetrichterten Werte an und belügen ihren Verstand nach Gerechtigkeit. Dieser Film zeichnet in Mitten aller Interpretationen wohl am Besten die Potenzialität, sodass Erziehung im verbrecherischen Handeln mündet, ab.
Emotionen und Visionen
Der dunkle Ton des Films ergibt in perfektem Maße die metaphorische Auseinandersetzung mit abweichenden Gesichtspunkten. Unter anderem Thematiken, wie kriegerische Sinnlosigkeit, oder der greifbar dargestellte Umgang mit Verlust – Gepetto ertränkt seinen Kummer mit Alkohol – finden binnen der nuancierten Laufzeit einen Platz innerhalb des Films. Obgleich die dargestellte Vorgeschichte des Initiators von Pinocchio keine Novität bildet, perfektioniert jene Illustration das Bildnis eines gebrochenen Gepettos, der in einem progressiven Teil des Films mit dem Verlust zu kämpfen hat, aber selbiges auch überwinden kann. Dieser Umgang mit einem, grob formuliert, Defizit, welches zu bewältigen gilt, bildet das Bindeglied zur Emotion der Geschichte, in welcher der kurz erzogene Pinocchio das Auftreiben des nötigen Geldes intentioniert. Diese Parallelhandlung, welche in einem gemeinsamen Finale mündet, fungiert als Stütze zum Gefühl eines Abenteuers und dem einer Lehre, die in innovativer Fasson, dem Zuschauer präsentiert wird. Dieser erblickt mittels del Toro´s Vision einen tieferen Einschnitt in die Materie.
Das beeindruckend liebevolle Detail hinter den Animationen des Films, mithilfe der als veraltet aberkannten Stop-Motion-Technik zeugt von einer charmanten Wahrnehmung des Gesamtbildes. Realitätsbezogene Stimuli in Form der atmosphärischen Umgebung und Schauplätze im Verlauf der Handlung bilden einen faszinierenden Kontrast in Relation zu den fantasie- und formenreichen Figuren. In nahezu jeder Perspektive, jedem Kameraschwenk und mit einem detailverliebten Grad an kleinen Referenzen, überzeugt die visuelle Darstellung ausgesprochen immersiv. Die dazu komponierte auditive Untermalung schwingt in wechselwirkender Beziehung, um eine hinlänglich ausgewogene Balance zwischen Emotionen auf dialogbasierter Ebene und im Kontext des Musicals zu kreieren.
Die Tatsache, dass der Film gleichermaßen als Musical, wie entmutigend und deprimierend gelistet ist, stellt eine Diskrepanz dar. Andererseits fungiert jener Wechsel der Tonalität als klassifizierte Abwesenheit der Realität. Der Film kann sich in jeder erdenklichen Weise kreativ und fantasievoll auslassen, nimmt dahingehend auf die Charakteristika des Originals Bezug, verständigt sich jedoch mit einer neu erdachten Sprache. Die gesamte thematische Auseinandersetzung mit der Unsterblichkeit und dem Umgang mit der Menschlichkeit geht dahingehend vollends auf. In ihrer außergewöhnlichen visuellen Darstellung stellen die Feen zwar ein Mittel zu nötiger Exposition, aber auch ein Instrument zu einer möglichen Erklärungsweise des magischen Motivs. Im Grunde könnte diese Auseinandersetzung mit den Geistern, dem Kern des Films die Spannung rauben, doch diese weiterführende Exposition wurzelt am Rande eines Mysteriums.
Selbsterklärend erläutert die Handlung ebenso die harmonischen Wesensmerkmale des Originals, samt ihrer Unklarheiten und einer gewissen Note Plot Armour, gerade im Bezug auf das rührende Finale. Dieses beharrt weiterhin auf Frohmut und die Metapher des Zerbrechens moralisch verwerflicher Tendenzen. Dabei weist die Problematik einen unvermuteten Lösungsansatz hervor, der sich wiederholt auf die Vermenschlichung von Pinocchio bezieht. Die Stärke des Endes stellt jedoch hingegen der vorherigen Ableger, die visuelle Abwesenheit einer „Veränderung“. Pinocchio schien für einen Augenblick sterblich und doch blieb das optische Indiz aus. Ganz zum Vorteil der Botschaft des Films und seinem Umgang mit Ausgrenzung.
Zu Beginn führt der Film den Zuschauer an ein extremes Beispiel, bei welchem Pinocchio aufgrund seines Aussehens ausgeschlossen wird, doch sein großes Lernspektrum erkennte jene Beleidigungen nicht in ihrer vollen Aussagekraft und nimmt sich jenes nicht direkt an. In diesem Fall beläuft sich die Gleichheit nicht auf einen übersensibelen Ausgang, sondern ebenso auf eine interpretationsbasierte Eventualität.
Der Wendekreis schließt sich: Der Protagonist trifft auf die Antagonisten, und schließlich trifft er erneut auf Gepetto. In seinem weitreichenden Verlauf hält der Film den Zuschauer mit allerlei kleineren Abweichungen und Referenzen bei Aufmerksamkeit und genießt die freie Entscheidungsgewalt lückenlos. So schließt sich nicht nur der zu Beginn eröffnete Kreis der magischen Belebung, sondern auch der Kreis des Lebens, bis schließlich alleinig Pinocchio verweilt. Die Erzählstruktur über den Bewohner des Baumes findet ein abruptes, wenngleich in der Emulsion der Handlung versiertes Ende.
Materialismus
Jedem Zuschauer sollte klar sein, dass keine Puppe in die Schule muss. Die Bewohner der kleinen italienischen Stadt hinterfragen nach wenigen aufklärenden Augenblicken weder die Existenz dieser „Puppe“, noch ihren Wert in einer Schule. Die Erläuterung wird einfach angenommen und blankes Vertrauen herrscht über das Empfinden der Einzelnen. Der Verlust wurde ignoriert und das wahre Wesen des Menschen wurde verdeutlicht. Die egozentrische Couleur wird eröffnet, es benötige die Dringlichkeit nach augenblicklichem Handeln.
Gleichwohl lässt sich dies auf die Frage nach der Schule übertragen, die dem Nutzen des Einzelnen widersprechen würde. Pinocchio aufgrund seiner Unsterblichkeit als Waffe zu missbrauchen, ermöglicht eine Personifikation des Materialismus anhand einer Lebensform. Die Persönlichkeit wird unterworfen von Oberflächlichkeit, um den dort entbehrlichen (dargestellten) Pflichten ein visuelles Ebenbild zu verschaffen.
Als vollkommene Antithese auf jene Sichtweise, entpuppt sich eine hölzerne „Puppe“ als menschlicher als ihre Gegenstücke. Pinocchios Wahrnehmung auf einer solch natürlichen Eigenart, dazu verlangt das wahre Wesen seiner Existent zu hinterfragen und neue Eindrücke zu evaluieren, ergibt eine wunderbare Gestaltung, im Sinnbild einer grandiosen Umsetzung einer alteingesessenen Erzählung.
Bild © Netflix
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